Aesel, der Königsspäher: Weihnachten wie vom anderen Stern

Aesel konnte kaum glauben, dass seine Knochen nach diesem Sturz heil geblieben
waren. Er rappelte sich auf und kroch aus dem Busch, in den ihn der Teleporter katapultiert
hatte. Eigentlich hatte er das alte Ding nur ein bisschen mit dem Wedel entstauben
wollen, als das Unglück geschehen war: Das Gerät war wie von Geisterhand
angesprungen, hatte ihn mitsamt dem Staubwedel angesaugt und einige Kilometer
unterhalb des Raumschiffs auf diesem abgelegenen Planeten wieder ausgespuckt.
Aesel hob die Augen und suchte den dämmergrauen Himmel nach einem Lebenszeichen
ab. Tatsächlich konnte er etwas erkennen, denn die Scheinwerfer seines Schiffes
besaßen eine Strahlkraft, die das Licht sämtlicher Sterne übertraf. Er musste diesen
hellen Strahlen folgen, denn der Landeanflug stand gewiss kurz bevor! Schließlich
hatten seine Leute hier unten eine Mission zu erledigen.

Zwei aufrechte Gestalten schälten sich aus dem Dämmerlicht, sie gingen sehr langsam
auf ihren Hinterläufen und hielten sich mit den Vorderbeinen umschlungen. Das musste
die Spezies Mensch sein, von der die Mannschaft ständig geredet hatte. Seltsame
schwanzlose Wesen mit winzigen Ohren und nackter Haut – und ausgerechnet unter
ihresgleichen sollte nach alter Prophetie der König des Universums geboren werden,
den Aesels Leute hier suchten. Naja, er war eigentlich nur die Putze an Bord, aber
irgendwie gehörte er doch zum erlesenen Team der Königsspäher …
Die beiden Menschen blieben abrupt stehen, als sie ihn erblickten, das weibliche
Wesen gab einen erschreckten Laut von sich. Das männliche Exemplar meinte beruhigend:
»Es ist nur ein Esel, Maria.«
Die Frau benötigte einige Sekunden, um sich wieder zu fassen. »Ein Esel … mit einem
… Staubwedel … im Maul?«, stammelte sie.
Der Mann lachte: »Vielleicht ist dies ein Zeichen, dass Gott uns diesen Esel geschickt
hat. Denn wie sollen wir sonst bis nach Bethlehem gelangen? Du hast doch kaum mehr
Kraft.«
Kurzerhand hob er die Frau namens Maria hoch und setzte sie auf Aesels Rücken.
Aesel ließ vor Schreck den Wedel fallen, die Worte blieben ihm förmlich im Hals stecken.
Und als der Mann ihm nun auch noch einen Klaps aufs Hinterteil gab, geriet er
völlig aus dem Häuschen. Er stemmt die Vorderhufe in den Boden und gab ein lautes Iah
von sich, denn er war doch schließlich kein Reittier!
»Josef, er will nicht …«
Aber Josef ließ sich nicht so leicht entmutigen, er knotete den Hüftstrick von seinem
Gewand und legte ihn Aesel als Schlaufe um den Hals. Dann zog er den armen Kerl mit
aller Kraft vorwärts: »Komm schon, nun sei kein Esel! Oder soll Maria etwa ihr Kind hier
mitten in der Wildnis bekommen?«
Aesel bemerkte, dass Josef ihn exakt in die Richtung ziehen wollte, in die sich auch das
Raumschiff bewegte. Eigentlich war es doch gar keine schlechte Idee, als Reittier
dieser Zweibeiner getarnt, die Fährte seiner eigenen Leute aufzunehmen … Mit diesem
Gedanken setzte er sich nun doch in Bewegung und Josef atmete erleichtert auf.
Doch der Weg gestaltete sich nicht so einfach, denn es zogen Wolken auf, die Lichter
des Raumschiffs verschwanden und auch die beiden Menschen schienen im Dunkel
der Nacht die Orientierung zu verlieren. Das versetzte Aesel in Aufregung, denn wahrscheinlich
gab es nur diese einzige Chance für ihn, zurück in sein Raumschiff zu
gelangen und seinen Heimatplaneten wiederzusehen. Auch Maria schien sich nicht
ganz wohlzufühlen, sie klammerte sich an seinen Hals und stöhnte zeitweise so sehr,
dass Aesel richtig Mitleid bekam.
»Es hat keinen Sinn«, hörte er schließlich Josefs Stimme. »Wir müssen noch einmal im
Freien übernachten, ich kann den Weg nicht finden.«
Schmerzlich vermisste Aesel sein GPS, das er zu Hause stets bei sich trug. Wahrscheinlich
würde er diesen technischen Komfort nie wieder genießen dürfen – und noch
dazu für alle Ewigkeit Menschen auf seinem Rücken herumtragen müssen!
Maria seufzte schwer. »Ich glaube, ich hatte vorhin ein paar Wehen«, sagte sie.
Diese Worte versetzten Josef spürbar in Panik. »Wie sollen wir … wo sollen wir hin?
Das Kind kommt, ohje, das Kind kommt!«
Aesel blinzelte angestrengt gen Himmel und sein Herz machte einen Sprung: Die Lichter
des Raumschiffs waren wieder zu sehen! Er marschierte einfach los, immer dem
himmlischen Leuchten hinterher: Er wollte – er musste! – dabei sein, wenn das Schiff
landete.
Zuerst versuchte Josef, ihn zurückzuhalten, doch nach kurzem Zögern ließ er Aesel einfach
freien Lauf. »Gott führt uns nach Bethlehem!«, rief er voll Freude. »Sieh, Maria, der
Esel kennt den Weg!«

Tatsächlich erkannten sie bald die Lichter eines Dorfes, die sich mit jedem Schritt
näherten. Ein überfülltes Dorf allerdings, das von Tausenden Menschen belagert wurde.
Hier konnte unmöglich ein Raumschiff landen! Besorgt blickte Aesel zum Himmel und
erkannte, dass die Lichter sich deutlich der Erde genähert hatten, sie steuerten auf den
Ortsrand zu. Er schwang die Hufe und zwängte sich durch die Menschenmenge quer
durch das Dorf, während Maria sich weiter auf seinem Rücken festklammerte und Josef
sich mit aller Kraft bemühte, Schritt zu halten. Erst als sie die letzten Häuser hinter sich
ließen und freie Fläche erreichten, hielt Aesel kurz zum Verschnaufen inne.
Mit einem Jubelruf holte Josef seine Maria vom Rücken des vermeintlichen Reittieres:
»Gott hat uns eine Bleibe gegeben! Sieh doch, Maria, der Stall dort! Hier drängeln sich
keine Menschenmengen, hier ist Platz für uns.«
Er trug seine Frau zu der einsam liegenden Hütte und verschwand mit ihr darin. Im
selben Moment erstrahlte das blendende Landelicht des Raumschiffes, sodass sich die
im Feld stehenden Hirten erschreckt zu Boden warfen.
Die Einstiegsluke öffnete sich und heraus traten der Kapitän, der erste Offizier und der
Steuermann. Die drei Männer setzten sich die goldblinkenden Morpher auf die Köpfe
und nahmen vor Aesels Augen menschliche Formen an. Eilig schlüpfte Aesel an ihnen
vorbei in sein Schiff.

Drei Könige mit goldenen Kronen traten in den Stall und brachten dem Kindlein ihre
Geschenke dar. Sie sagten, sie seien dem hellen Leuchten eines Sternes gefolgt.
»Nie wieder ohne GPS aus dem Haus! Das wäre fast in die Hose gegangen«, seufzte
Aesel, während nur wenige Meter entfernt höchst aufgeregte Hirten einen inzwischen
nicht mehr ganz so einsamen Stall erstürmten, und riefen, sie hätten die himmlischen
Heerscharen gesehen.

Nikolaus Segway